Zitat
Original von Caleb McBryde
Wenn ich Beispiele von Ungerechtigkeit von vor mehreren Dekaden anbringe, kann ich die doch nicht mehr in die heutige Zeit mit anderen politischen, gesellschaftlichen und vor allem bildungspolitischen Strukturen kopieren.
Ich bin der festen Ueberzeugung, dass jeder, der was aus sich machen will, dies auch kann. Den Gegenbeweis (sowohl praktisch als auch empirisch) konnte mir noch keiner bringen. Statt dessen wird mir um die Ohren geworfen, dass es beim Grossvater vor 50 Jahren* halt nicht geklappt hat. Das ist Bullshit, um bei Crues Worten zu bleiben.
Und in welchem Punkt genau fehlt dir bei diesem Beispiel die Empirie? Auch die Geschichte ist eine empirische Wissenschaft.
In einer Hinsicht hast du natürlich vollkommen Recht: Man kann historische Beispiele nicht unreflektiert auf die Gegenwart übertragen. Und möglicherweise trifft es, wie du sagst, auch zu, "dass jeder, der was aus sich machen will, dies" - und man sollte einfügen "heute" - "auch kann". Aber der entscheidende Punkt ist ja gerade, dass euch die heutigen Zustände eben nicht passen. Was euch vorschwebt, ist ein Staat, der die Steuer- und Abgabenlast deutlich senkt und sich im Gegenzug aus vielen Bereichen zurückzieht. Genau das ist aber keinesfalls eine utopische Zukunftsvision, sondern der historische Normalfall, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in Deutschland Wirklichkeit war. Am historischen Beispiel lässt sich also demonstrieren, welche Folgen die "Schwäche" des Staates etwa in der Bildungspolitik haben kann:
Zum einen, dass weiterführende Schulen, von Universitäten erst nicht zu reden, nicht nur Gebühren erhoben, sondern (im ländlichen Raum) überhaupt nicht zur Verfügung standen. Wer sie besuchen wollte, musste also - unter Investition von nicht vorhandenem Geld - pendeln oder umziehen. Auch Nebenjobs, die heute vielen Schülern und Studenten helfen, waren dank Dumpinglöhnen keine Alternative. Wenn man bedenkt, dass das monatliche Schulgeld für Gymnasien vor 1945 etwa 15 bis 20 Reichsmark betrug, ein Vollzeit-Arbeiter (und das waren bis zu 60 Stunden pro Woche) aber nur rund 100 Mark erhielt, kann man leicht ausrechnen, wie "gut" sich Schul- und Büchergelder sowie die Lebenshaltung in der fremden Stadt von dem noch weitaus niedrigeren Einkommen eines unqualifizierten, jungen Teilzeit-Arbeiters bestreiten ließen.
Gewiss konnte man es mit entsprechendem Ehrgeiz trotzdem schaffen - einzelne haben es schließlich immer geschafft. Dass dies allerdings, den entsprechenden Willen vorausgesetzt, jedem gelingen kann, ist schlichtweg nicht wahr. Wer das glaubt, muss auch glauben, dass die 500.000 Kinder, die sich nach der Abschaffung des Schulgeldes in Burundi zusätzlich zum Unterricht angemeldet haben, auch vorher die Möglichkeit zum Schulbesuch gehabt hätten, wenn sie sich nur mehr angestrengt hätten. Dabei haben fast alle von ihnen sogar schon in der Landwirtschaft gearbeitet, und trotzdem reichte ihr Einkommen für die Gebühren nicht aus. Um dem abzuhelfen, hat der Staat im letzten Jahrhundert auch bei uns die Steuerquote erhöht und Gelder in das Bildungssystem umgeleitet. Viele hier mögen das für einen Sündenfall halten und sich nach der "guten alten Zeit" oder Zuständen wie in Burundi sehnen. Ich dagegen bin dem Staat dankbar für die Ausbildung, die er mir ermöglicht hat.